Blauflügel-Prachtlibelle - Calopteryx virgo (m)
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Blauflügel-Prachtlibelle
Calopteryx virgo
Männchen
Von Träumen und Symbolen
© Martina Decker
Silvia betrat mit klopfendem Herzen das kleine Tattoo-Studio. Sie hatte lange überlegt, ob sie das in ihrem Alter noch machen sollte und war zu dem Schluss gekommen: Jetzt oder nie! Den Wunsch nach einer Tätowierung hegte sie schon seit vielen Jahren, doch erst jetzt, einen Tag nach ihrem fünfzigsten Geburtstag, hatte sie den Mut, es wirklich zu tun.
„Wissen Sie denn schon, welches Motiv Sie möchten? Und wo es hin soll?“, fragte der junge Mann und lächelte sie freundlich an. Da war kein prüfender Blick ob ihres Alters oder ein missbilligender Unterton in seiner Stimme.
„Eine Libelle! Auf die linke Schulter. Ich hab da auch ein Foto …“
Silvia kramte in ihrer großen Handtasche. Die Blauflügel-Prachtlibelle hatte sie im Internet entdeckt und war sofort begeistert gewesen. Der schlanke Leib schillerte blau-türkis wie das Wasser in der Karibik; die prächtigen Flügel waren in unterschiedlichen Blautönen schattiert und schwungvoll geadert.
Der junge Mann nahm das Foto in die Hand und betrachtete es lange.
„Können Sie das so machen?“, fragte Silvia und überlegte schon, wie sie reagieren würde, wenn er jetzt „Nein“ sagen würde.
Natürlich hatte sie sich auch andere Motive angesehen – das Internet war voll davon. Aber Ornamente und japanische Schriftzeichen waren keine Alternative, weil einfach nicht ihr Stil, Blumen und Schmetterlinge nach ihrem Dafürhalten eher etwas für junge Frauen. Vor allem aber gefiel Silvia die Symbolik der Libelle. Sie kombinierte Zerbrechlichkeit und innere Kraft, aber auch Unsterblichkeit und Wiedergeburt, Leichtigkeit, Leichtsinn, Anmut und Geschwindigkeit. Da war so viel von ihrem Leben drin, ihrem Charakter, ihrer Lebensart!
Silvia war zierlich und klein. Die Männer in ihrem Leben hatten immer versucht, sie zu beschützen und sogar ihre Eltern meinten lange, das raue, wahre Leben von ihr fernhalten zu müssen. Leichtsinnig sein durfte sie nie. „Das ist viel zu gefährlich!“ waren die Worte, die sie in ihrer Kindheit stets begleiteten. Oder auch „das schickt sich nicht für ein Mädchen!“ Brav musste sie sein und anmutig, auf dem Weg zum Kaufmann ebenso wie in der Ballettstunde. Erst viel später erfuhr sie, wie angenehm ein wenig Leichtigkeit im Leben und auch im Umgang mit sich selbst sein konnte. Damals spürte sie auch zum ersten Mal diese innere Kraft, von der sie dachte, dass sie sie gar nicht besäße. Sie hatte diesen Zettel gefunden in seiner Jackentasche. „…in Liebe Patricia!“
Ohne zu zerbrechen, stand sie alles, was danach kam, durch. Und sie begann, sich Gedanken um ihr eigenes Leben zu machen. Was sie wollte – was sie konnte!
Silvia begann zu überlegen, was von ihr bleiben würde nach ihrem Tod. Gab es etwas, dass es wert war, sich an sie zu erinnern? Sie wollte nicht einfach in der Unendlichkeit verschwinden. Würde ihre Seele wiedergeboren werden?
Antworten auf diese Fragen zu finden, das trieb sie an und brachte sie sich selbst immer wieder ein Stückchen näher. Sie versuchte nicht länger, eine andere zu sein und es allen recht zu machen; sie fand Freude daran, zart und anmutig sein und verhüllte ihren Körper nicht länger mit viel zu großen Pullovern. Statt sportlichen Turnschuhen trug sie nun damenhafte Sandaletten und Pumps. Ihr Eintritt in einen Raum wurde mehr und mehr zu einem Auftritt und jeder bewundernde oder auch neidische Blick der Anwesenden stärkte ihr Selbstbewusstsein.
„Nein“, dachte sie, „wenn er mir nicht diese Libelle stechen kann, will ich gar kein Tattoo.“
„Kein Problem!“ Der junge Mann deutete mit der Hand auf einen Stuhl gegenüber. „Nehmen Sie doch einen Moment Platz. Ich werde eine Vorlage erstellen. Dauert aber nicht lange.“
Verstohlen beobachtete sie, wie der Mann sich an die Arbeit machte.
Schon kurz darauf kam er wieder auf sie zu. „Ist das so in Ordnung?“
Silvia schaute staunend auf das Papier. „Wunderbar …“
„Dann wollen wir mal … In Farbe wird es nachher natürlich noch viel besser sein!“
Einige Tage später betrachtete Silvia mehr als zufrieden das Tattoo. Die Schutzfolie war ab, alles gut verheilt. Die Farben leuchteten und schillerten getreu dem Vorbild.
Ja, fast hätte man meinen können, die Libelle ruhe sich nur für einen kurzen Augenblick auf ihrer Schulter aus. Gleich würde sie wieder aufsteigen und zurück zum Teich schwirren um zu jagen.
Silvia griff nach dem neuen Bustiertop und streifte es über. Heute Abend traf sie sich mit Freunden. Und heute Abend wurde sie das erste Mal ihr Tatoo zeigen. Lisa, ihre beste Freundin seit Kindertagen, würde ihr wahrscheinlich einen entrüsteten Vortrag halten. Sie führte ein spießiges Leben und tat niemals etwas, mit dem sie auffiel.
Heide würde eher mitleidig lächeln. „Arme Silvia! Hast du die Trennung von Robert immer noch nicht verwunden?“
Und Richard, Heides Mann würde wieder etwas faseln von „gewaltsam einen auf jung machen“ oder so.
Aber das war ihr egal. Sollten sie doch reden und denken was sie wollten. Aber schön wäre es, wenn das Tattoo Jürgen gefiele. Seit einiger Zeit flirtete er bei jeder Gelegenheit mit ihr. Er sah blendend aus und in ihren Gesprächen hatten sie schon viele Gemeinsamkeiten entdeckt. Trotzdem hatte sie seine Annäherungen bisher abgelehnt, aber mittlerweile spürte sie eine wachsende Zuneigung zu diesem Mann.
Sorgfältig zog Silvia ihre Lippen nach. Das Leben war noch lange nicht vorbei. Es würde noch so manche Überraschung für sie bereithalten. Und sie war bereit, sich darauf einzulassen.
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Das Foto entstand am 10. Juni 2010 auf der Sulzbachtalaue in Dudweiler am Ufer des Sulzbachs.
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